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Erschienen in: HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik 4/2023

Open Access 05.06.2023 | Schwerpunkt

Digitale Routenplanung für die Radlogistik: Anforderungen, Hürden und Lösungsansätze

verfasst von: Maximilian Engelhardt, Birte Malzahn, Robert Teschendorf

Erschienen in: HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik | Ausgabe 4/2023

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Zusammenfassung

Durch die Urbanisierung und ein verändertes Kaufverhalten hin zum Online-Shopping nimmt der Lieferverkehr in Städten immer weiter zu und wird zum wichtigen Ansatzpunkt zur Erreichung von Klimazielen. Daher werden im städtischen Warentransport immer häufiger emissionsfreie Fahrzeuge, unter anderem auch Lastenräder, eingesetzt. Lastenräder bringen jedoch logistische Effizienznachteile gegenüber Fahrzeugen mit größerem Ladevolumen und höherer Maximalgeschwindigkeit mit sich. Digitale Routenplanungssysteme stellen eine Möglichkeit da, die Effizienznachteile zu verkleinern und die Attraktivität von Lastenrädern im Sinne einer nachhaltigen urbanen Logistik zu steigern. Der Einsatz einer (geeigneten) digitalen Routenplanung könnte die gefahrenen Lieferstrecken im Hinblick auf Zeitbedarf, Kosten und Energiebedarf optimieren. Beim Einsatz von Lastenrädern in der Logistik werden in der Praxis jedoch nur selten Routenplanungssysteme verwendet, da die herkömmlichen Systeme nur sehr unzuverlässig wünschenswerte Routen für Lastenräder empfehlen. Dies liegt daran, dass die entsprechenden Routeninformationen – ein wesentlicher Input für die Routenplanungs-Algorithmen – nicht ausreichend für Lastenräder digitalisiert sind. In diesem Beitrag wird anhand von Daten und Erfahrungen aus einem Feldversuch die Qualität marktfähiger Routenplanungs-Tools bewertet. Darauf aufbauend erfolgt eine Analyse der Anforderungen an ein Routenplanungssystem für den Einsatz von Lastenrädern in der urbanen Logistik. Abschließend werden Lösungsansätze zur Anreicherung des digitalen Kartenmaterials mit lastenradspezifischen Informationen aufgezeigt und damit eine große Hürde bei der Entwicklung lastenradspezifischer Routenplanungssysteme adressiert.

1 Einleitung

Durch die Urbanisierung und ein verändertes Kaufverhalten hin zum Online-Shopping nimmt der Lieferverkehr in Städten immer weiter zu. 2011 wurden 2,5 Mrd. Kurier- Express- und Paketsendungen (KEP) ausgeliefert, 2021 dagegen bereits 4,5 Mrd. Sendungen, was fast einer Verdopplung entspricht (BIEK 2022). Der durch Online-Shopping induzierte Lieferverkehr kann zwar private Einkaufsfahrten ersetzen und abhängig vom genutzten Verkehrsmittel sogar zu Einsparungen von Treibhausgasemissionen (THG) führen (Edwards et al. 2010), doch durch den Anstieg des Lieferverkehrs rückt dieser selbst in den Fokus, um Emissionsreduzierungen und eine Entlastung der Verkehrsinfrastruktur in urbanen Räumen im Rahmen einer Mobilitätswende zu erzielen. Im städtischen Warentransport werden daher immer häufiger emissionsfreie Fahrzeuge eingesetzt, unter anderem auch Lastenräder mit und ohne elektrische Unterstützung. Lastenräder sind insbesondere zu Stoßzeiten im innerstädtischen Verkehr schneller und flexibler als Transporter, und zeigen auch Effizienzvorteile bei Be- und Entladevorgängen. Das geringere Ladevolumen und die begrenzte Maximalgeschwindigkeit (in der Regel 25 km/h) können jedoch auch zu Effizienznachteilen führen. Eine Möglichkeit, die Effizienz in der Lastenradlogistik zu steigern, ist der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT). Insbesondere (geeignete) digitale Routenplanungssysteme können Lastenradfahrer*innen dabei helfen, schnelle, kurze und sichere Routen von einem Lieferort zum nächsten zu finden. Im Gegensatz zu einer „analogen“ Planung können dadurch Zeitbedarf, Kosten und Energiebedarf der Auslieferungen reduziert werden. Von einer digitalen Routenplanung könnten insbesondere auch unerfahrene bzw. in neuen Gebieten eingesetzte Fahrer*innen profitieren. Im wachsenden Markt der Radlogistik zeigt sich, dass die Gebietskenntnis der Fahrer*innen einen großen Einfluss auf deren Produktivität hat. Eine digitale Routenplanung und Wegeführung könnte die Produktivität insbesondere in der Einarbeitungszeit stark verkürzen und die Fahrenden darüber hinaus bei ihrer täglichen Arbeit unterstützen. Die Attraktivität des Lastenrads als nachhaltiges und energieeffizientes Transportmittel in der urbanen Logistik könnte dadurch gesteigert werden.
In der Lastenradlogistik-Praxis werden jedoch nur selten Routenplanungssysteme eingesetzt, da marktgängige Systeme auf den Warentransport mit Kraftfahrzeugen wie z. B. Vans ausgerichtet sind. Für Lastenräder eignen sich diese Systeme nicht, da diese – wenn möglich – nicht auf der Straße fahren, sondern die Radinfrastruktur nutzen. Sie sind flexibler als ein Lieferwagen, jedoch nicht so flexibel und wendig wie „normale“ Fahrräder (z. B. bei unebenen Böden, schmalen Wegen u. ä.). Bestehende Navigationssysteme für Fahrräder können somit auch nicht ohne Einschränkungen genutzt werden. Die Infrastruktur für Lastenräder ist im Vergleich zur Straßeninfrastruktur oder reinen Fahrradinfrastruktur weniger gut in digitalem Kartenmaterial dokumentiert. Das verfügbare digitale Kartenmaterial ist dadurch für ein lastenrad-spezifisches Routing nicht ausreichend. Dies hat insbesondere Konsequenzen für den gewerblichen Lastenradverkehr, der sich vom privaten Lastenradverkehr durch deutlich höhere Effizienzanforderungen unterscheidet.
Zielsetzung des Beitrags ist das Aufzeigen von Lösungsansätzen zur Dokumentation von Daten in digitalem Kartenmaterial, die für die Routenplanung gewerblicher Lastenradverkehre notwendig sind. Hierfür wird untersucht, welche Anforderungen sich an ein Routenplanungssystem für urbane, gewerbliche Lastenradverkehre ergeben, welche Daten für die Berechnung einer geeigneten Wegeführung benötigt werden und wie diese Daten in das bestehende Kartenmaterial integriert werden können. U. a. werden die Ergebnisse eines Feldversuchs dargestellt, in welchem verschiedene Szenarien zur Routenplanung von gewerblichen Lastenrädern getestet wurden, und diese Ergebnisse mit früheren Forschungsarbeiten abgeglichen. Mit diesem Paper soll ein Beitrag dazu geleistet werden, die Entwicklung lastenradspezifischer Routenplanungssystemen zu unterstützen und zu beschleunigen. Gelingt ein effizienterer Einsatz der Lastenradlogistik durch ein verbessertes Routing, können mehr Lastenräder in der urbanen Logistik eingesetzt werden, wodurch Emissionen reduziert, die städtische Infrastruktur entlastet und dadurch die Lebensqualität in Städten gesteigert werden kann. Praktische Implikationen ergeben sich für Logistikdienstleister (verbesserte Routenplanung), Anbieter von Routenplanungssystemen (digitale Routenplanung für gewerbliche Lastenräder als neues Geschäftsfeld), Anbieter von digitalem Kartenmaterial (Vertrieb optimierter Karten an Routenplanungsanbieter) und für Kommunen/Städte (weniger Emissionen im Lieferverkehr durch steigende Attraktivität gewerblicher Lastenräder).
Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut: In Abschn. 2 werden Grundlagen zur urbanen Logistik, zu Lastenrädern und zu Routenplanungssystemen skizziert sowie der Stand der Forschung beschrieben. In Abschn. 3 werden die Ergebnisse eines Feldversuchs dargelegt, in dem verschiedene Szenarien zur Routenplanung getestet wurden. Darauf aufbauend werden Anforderungen lastenradspezifischer Routenplanungssysteme in Form von User Stories erarbeitet (Abschn. 4). Schließlich werden Lösungsansätze konzipiert, um Kartenmaterial mit lastenradspezifischen Informationen anreichern zu können (Abschn. 5). In Abschn. 6 wird ein Fazit gezogen und weiterer Handlungsbedarf für Forschung und Praxis aufgezeigt.

2 Grundlagen und Stand der Forschung

Unter urbaner Logistik werden alle logistischen Aktivitäten im urbanen Raum verstanden. Hierzu zählen Transport, Lagerung und Umschlag innerhalb einer Stadt. Die Lastenradlogistik ist ein Teilgebiet der urbanen Logistik, die sich auf den Transport von Gütern mit Lastenrädern spezialisiert. Aufgrund des geringeren Ladevolumens von Lastenrädern werden diese in der Paketzustellung häufig in Kombination mit Mikro-Depots genutzt. Ein Mikro-Depot ist ein Umschlagpunkt, an dem größere Fahrzeuge Ware anliefern können, die dann von kleineren Fahrzeugen wie z. B. Lastenrädern aufgenommen und an Empfänger*innen (Privatkunden/Geschäfte) im näheren Umkreis weiterverteilt werden. Mit dem Lastenrad können perspektivisch über 30 % aller Paketsendungen (v. a. die kleinen und leichten) zugestellt werden (Fontaine et al. 2022), was die Relevanz des Transportmittels für eine nachhaltige urbane Logistik unterstreicht. Lastenradlogistik ist bereits heute ein wichtiger Bestandteil großer Lieferdienste, um Nachhaltigkeitsziele zu erreichen (z. B. bei Hermes in Berlin und Hamburg, Amazon Logistics in London).
Es gibt verschiedene Lastenradtypen, die aufgrund ihrer Eigenschaften ein unterschiedliches Routing erfordern. So dürfen z. B. Modelle ab einer gewissen Lastenradbreite nicht mehr auf dem Radweg fahren. Abb. 1 zeigt Lastenradkategorien nach Räderanzahl und deren Charakteristika nach Brost et al. (2019).
Die Begriffe Tourenplanung und Routenplanung werden in der Praxis häufig synonym verwendet. Für diese Arbeit wird unter Tourenplanung die Festlegung der Reihenfolge von Transportaufträgen verstanden (Domschke und Scholl 2010), auch bekannt als Vehicle Routing Problem (VRP) bei mehreren Fahrzeugen oder als Traveling Salesman Problem (TSP) bei nur einem Fahrzeug. Unter Routenplanung hingegen verstehen wir im Rahmen der vorliegenden Arbeit die Planung einer konkreten Fahrtstrecke, um von A nach B zu gelangen. Für die lastenradspezifische Tourenplanung (Reihenfolgenplanung) gibt es bereits Lösungsansätze in der Forschung: Naumov und Pawluś (2021) sowie Hesselmans (2022) beschäftigen sich mit der Lösung des VRP für Lastenräder und berücksichtigen die größere Abhängigkeit der Fahrtgeschwindigkeit von der Beladung. Im Projekt SmartRadL (2022) wurden lastenradspezifische Faktoren wie Kapazität und Reichweite bei der Lösung des VRPs berücksichtigt. Die Wegeführung (Routenplanung) hingegen wurde in diesem Projekt als weniger relevant eingestuft, da der Operations-Radius nur drei Kilometer betrug und die Alternativen dadurch begrenzt waren. Cargorocket (cargorocket.de) entwickelte 2021 eine Routenplanungs-App für Lastenräder basierend auf OpenStreetMap (OSM)-Daten. Mit Hilfe eines Cargo-Bike-Index wird für jede Straße die Lastenradeignung nach definierten Regeln automatisiert bewertet (CargoRocket/OSM Community 2022). Eine Betrachtung speziell für gewerbliche Lastenradverkehre wurde in diesem Projekt jedoch nicht durchgeführt. Die Anforderungen an die Routenwahl – und damit die Eignung der einzelnen Wege – unterscheiden sich jedoch gegenüber privaten Lastenradverkehren teils deutlich (Kapp 2021).
Es gibt heute noch keine Lösung, zuverlässige und effektive Routen für gewerbliche Lastenradverkehre digital zu planen. Die Grenzen der heutigen Systeme werden in Abschn. 3 auf Grundlage eines Feldversuchs mit verschiedenen Touren‑/Routenplanungssystemen beschrieben.

3 Status Quo der lastenradspezifischen Routenplanung – Erfahrungen aus einem Feldversuch

Der Test verschiedener Routenplanungsszenarien wurde im Rahmen eines Berliner Forschungsprojektes durchgeführt. In diesem Projekt wurde ein Logistikkonzept erarbeitet, das eine emissionsfreie Belieferung im urbanen Raum ermöglicht. Mikro-Depots dienten als Umschlagpunkt für die Waren. Für die Zustellung an den finalen Lieferpunkt wurden E‑Lastenräder eingesetzt. Dieses Logistikkonzept wurde unter realen Bedingungen sechs Monate von Juli bis Dezember 2022 getestet. Die Mikro-Depots lagen in Berlin am Tempelhofer Damm (Te-Damm) sowie am Westhafen. Von den Depots aus wurden pro Tour durchschnittlich drei bis vier Lieferpunkte mit jeweils ca. vier Paketen beliefert. Insgesamt wurden 169 Touren durchgeführt (1,5 Touren pro Liefertag) und 6 verschiedene Fahrer*innen eingesetzt. Die durchschnittliche Strecke pro Tour betrug ca. 14 km und die Strecke zwischen zwei Stopps zwischen 0,8 km und 5,3 km. Abb. 2 zeigt auf der linken Seite die Lage der Depots in Berlin sowie die Liefergebiete und auf der rechten Seite das Mikro-Depot am Westhafen inkl. der eingesetzten Lastenräder.
Im Rahmen des Feldversuchs wurden drei Szenarien zur Routenplanung getestet: In Szenario 1 wurden Routen manuell geplant, in Szenario 2 mit einem digitalen Routenplanungstool im Fahrradmodus und in Szenario 3 mit einem digitalen Routenplanungstool speziell für Lastenräder. Ziel des Einsatzes der digitalen Routenplanungssysteme war es zu ermitteln, wie geeignet derzeit am Markt verfügbare Systeme sind, weitere Handlungsbedarfe aufzudecken sowie Anforderungen an die Routenplanung für Lastenräder zu definieren.
Szenario 1 und Szenario 2 wurden von Juli 2022 bis November 2022 untersucht (161 Touren, 6 Fahrer*innen). Die Fahrer*innen erhielten die Reihenfolge der Stopps (Transportaufträge) vor Tourenbeginn über eine App und konnten wählen, ob sie die Fahrtstrecke zu den festgelegten Entladepunkten ohne Systemunterstützung selbst planen (Szenario 1) oder ein digitales Routenplanungssystem im Fahrrad-Modus verwenden wollten (Szenario 2). Im Ergebnis zeigte sich, dass 5 von 6 Fahrer*innen keine rein digitale Routenplanung wählten (nur 1 Fahrer wählte rein digital), sondern eine hybride Variante aus Szenario 1 und 2 präferierten: Die Route wurde zwar digital berechnet, aber es wurden spontan aufgrund auftretender Probleme während der Fahrt abweichende Strecken gewählt. Hier war besonders problematisch, dass der „Fahrradmodus“ ungeeignete Strecken für gewerbliche Lastenräder vorschlug. Häufig wurden schmale oder holprige Wege, Einbahnstraßen, Baustellen und gesperrte Straßen inkludiert, die nur schwer oder gar nicht mit einem Lastenrad befahren werden konnten oder zu längeren Fahrzeiten geführt hätten. In Szenario 3 wurde im Dezember 2022 (8 Touren, 2 Fahrer*innen) ein lastenradspezifisches Routenplanungssystem im Beta-Status getestet. Problematisch war, dass die Software ausgebaute Radwege nicht erkannte und die Fahrer*innen auf die Straße leitete. Auch erhielten die Fahrer*innen falsche Navigationsanweisungen wie z. B. die Bitte zu wenden, obwohl die Strecke gerade führte.

4 Anforderungen an die gewerbliche Lastenrad-Routenplanung

Anforderungen an ein Routenplanungssystem für gewerbliche Lastenräder lassen sich aus den Faktoren ableiten, die die Wahl einer entsprechenden Fahrtroute beeinflussen. Liu et al. (2020) zeigen, dass für private Lastenradfahrer*innen die Faktoren Streckenlänge, Sicherheit, Komfort, Straßenzustand und auch die Breite des Weges entscheidend für die Routenwahl sind. Sie betonen jedoch, dass die Ergebnisse im Kontext einer Stadt zu sehen sind und lokale Erhebungen notwendig seien, um lokale Einflussfaktoren auf die Routenwahl zu verstehen. Für den gewerblichen Bereich bestätigen die Ergebnisse des Projekts SmartRadL (2022) den Bedarf nach lokalen Erhebungen der Einflussfaktoren auf die Routenwahl. Denn bestimmte Hindernisse treten in verschiedenen Städten unterschiedlich häufig auf (Kapp 2021). Tab. 1 stellt auf Basis der Arbeiten von Liu et al. (2020), SmartRadL (2022) und Kapp (2021) sowie des selbst durchgeführten Feldversuchs die Faktoren zusammen, die gewerbliche Lastenradfahrer*innen bei der Wahl ihrer Route beeinflussen. Die Zusammenstellung kann als Basis für weitere lokale Erhebungen verwendet werden.
Tab. 1
Einflussfaktoren auf die Routenwahl für gewerbliche Lastenräder (Quelle: Liu et al. (2020), SmartRadL (2022), Kapp (2021), eigener Feldversuch)
Kategorie
Einflussfaktoren auf Routenwahl
Übergeordnete Einflussfaktoren
Dauer der Fahrt
Länge der Strecke
Sicherheitsgefühl der Fahrer*innen
Komfort/körperliche Anstrengung
Straße
Radinfrastruktur
Vorhandensein Radwege/Busspuren
Breite der Straße/Radwege
Möglichkeit des Überholens
(Gefährliche) Kreuzungen
Schutzstreifen
Weitere Charakteristika
Untergrundbelag
Ampelanlagen
Steigung und Gefälle
Hindernisse
Dauerhafte Hindernisse
Bordsteine
Poller
„Drängelgitter“/Umlaufschranken
Fußgängerzone
Temporäre Hindernisse
Baustellen
Veranstaltungen
Verkehr
Autoverkehr
Autoverkehr auf der Strecke
schlecht passierbarer Gegenverkehr (z. B. in für Fahrräder freien Einbahnstraßen)
Stau durch Autoverkehr
Fußgängerverkehr
Fußgängerverkehr auf der Strecke
geteilter Fuß- und Radweg
Aus den Einflussfaktoren auf die Routenwahl gewerblicher Lastenradfahrer*innen lassen sich zentrale Anforderungen an eine digitale Routenplanung in Form von User Stories ableiten. User Stories beschreiben Anforderungen an Softwaresysteme, die einen konkreten Mehrwert für Nutzer*innen haben (Wirdemann und Mainusch 2017). Im Folgenden werden die vier zentralen User Stories beschrieben:
Als gewerbliche Lastenradfahrer*in möchte ich auf meiner Route...
1.
Baustellen auf der Fahrbahn, Ampelanlagen, Veranstaltungen, dichten Auto- und Fußgängerverkehr, Fußgängerzonen, schmale Straßen und schmale Radwege meiden, um schneller im Verkehr unterwegs zu sein und meine Ware effizient ausliefern zu können. (User Story 1)
 
2.
Hauptstraßen ohne Schutzstreifen und gefährliche Kreuzungen meiden und stattdessen möglichst breite Radwege oder Busspuren nutzen, um sicher im Verkehr unterwegs zu sein. (User Story 2)
 
3.
Steigung und Gefälle meiden, um die körperliche Anstrengung zu reduzieren. (User Story 3)
 
4.
unebene Fahrbahnen und Hindernisse wie Schlaglöcher, hohe Bordsteine, Poller, Drängelgitter meiden, damit mein Fahrzeug unversehrt bleibt. (User Story 4)
 

5 Lösungsansätze zur Anreicherung des digitalen Kartenmaterials

Im vorherigen Kapitel wurden Anforderungen an eine lastenradspezifische Routenplanung definiert. Damit diese in einem digitalen Routenplanungssystem umgesetzt werden können, müssen die benötigten Daten berücksichtigt und im Kartenmaterial ergänzt werden. Dieses Kapitel gibt einen Überblick über Lösungsansätze zur Ergänzung des Kartenmaterials um lastenrad-relevante Informationen.

5.1 Morphologischer Kasten als Ordnungsrahmen

Die in Abschn. 4 zusammengestellten erforderlichen Daten sind für Routenplanungssysteme derzeit nicht digital verfügbar (SmartRadL 2022). Einen möglichen Lösungsansatz zeigt das Projekt CargoRocket auf, in dem Straßen und Radwege mit einfachen Heuristiken auf Basis von Straßen-Tags (z. B. Fahrradweg, Straßenbreite), der Oberflächenbeschaffenheit und Barrieren flächendeckend mit einer Zahl zwischen 0 und 5 auf ihre Lastenradtauglichkeit bewertet werden (CargoRocket/OSM Community 2022). Diese Informationen werden von CargoRocket über eine API verfügbar gemacht, um die Integration in externe Applikationen und Dienste zu ermöglichen. Diese Lösung stellt eine leicht skalierbare Möglichkeit dar, lastenrad-relevante Informationen zu erheben und digital verfügbar zu machen. Sie wird den lokalen und lastenradtyp-spezifischen Unterschieden in den Routenwahl-Präferenzen jedoch nicht gerecht. In der Praxis wurde sie noch nicht hinreichend getestet, weswegen über die Qualität der Ergebnisse keine Aussage getroffen werden kann. Als Basis für die Generierung weiterer Lösungsansätze zur Anreichung des digitalen Kartenmaterials wird daher ein morphologischer Kasten erstellt (Abb. 3). Dieser zeigt eine umfangreiche Systematisierung der Aspekte auf, die für eine entsprechende Datenerhebung und Datennutzung relevant sind.
Der morphologische Kasten setzt sich aus datenbezogenen, datenerhebungsbezogenen und datennutzungsbezogenen Kriterien zusammen. Die datenbezogenen Kriterien bestehen aus der Datenkategorie und dem erwarteten Nutzen und bauen auf den Ergebnissen aus Abschn. 4 auf. Zu den datenerhebungsbezogenen Kriterien zählen Datenerhebungsverfahren, Qualität der erhobenen Daten, Umfang der erhobenen Daten und die Anreize zur Datenerhebung. Die Erhebungsverfahren können in manuelle und maschinelle Verfahren eingeteilt werden. Manuelle Verfahren können z. B. das Aufnehmen von Fahrer*innenfeedback zur Route oder das manuelle Aktualisieren von offenem Kartenmaterial wie OSM über Apps wie Streetcomplete (streetcomplete.app) sein. Maschinelle Verfahren zur Datenerhebung werden aktuell in der Forschung entwickelt: Das Projekt SmartRadL (2022) identifiziert mithilfe von GPS-Daten häufig befahrene Strecken und nimmt Straßenzustände und Hindernisse mittels Smartphone-Sensorik und Kamera auf Erhebungsfahrten auf. Das Projekt AK_hoch_2 (2021) entwickelt zwei Sensorsysteme für Fahrdaten und Bilddaten (technisch ähnlich wie bei Projekt SmartRadL) für die automatisierte Erfassung von Kartendaten mit Fokus auf Rad- und Gehwege. Im Projekt ABPA (2022) wird ein KI-basiertes System zur automatisierten Analyse der Beschaffenheit von Radwegen entwickelt. Im Projekt aZuR (2022) werden mittels LiDAR (dreidimensionalem Laserscanning) und Kameras Radwege und deren Umgebungen erfasst. Im Projekt I‑Route-Cargobike (2023) werden Vergangenheitsdaten gewerblicher Lastenradrouten maschinell ausgewertet, Präferenzen der Fahrer*innen abgeleitet und auf Fahrzeug und Fahrer*in zugeschnittene Routingalgorithmen entwickelt. Mit Bezug zur Anreicherung des Kartenmaterials haben maschinelle Verfahren das Problem, die in großen Mengen erhobenen Daten offen verfügbar zu machen. Denn offene Lösungen wie OSM lassen nur manuelle Änderungen des Kartenmaterials zu. D. h. Datenpunkte können nur einzeln durch Nutzer*innen eingepflegt werden. Je nach Datenerhebungsverfahren kann die Qualität der verfügbar gemachten Daten unterschiedlich gut ausfallen (gering, mittel, hoch) und der Umfang der Erhebung unterschiedlich weit reichen (von einem geringen Umfang, z. B. einzelne Straßen zu einem hohen Umfang, z. B. gesamtes Stadtgebiet). Die Anreize zur Datenerhebung können intrinsisch sein, wenn z. B. ein Radlogistikunternehmen von besseren Daten für bessere/schnellere Routen profitiert, oder extrinsisch, wenn Unternehmen und Fahrer*innen für ihren Beitrag monetär entlohnt werden. Datennutzungsbezogene Kriterien sind das Betreibermodell (Verantwortung für Datenbeschaffung und Verfügbarmachung), Zugriffsmöglichkeiten (z. B. Open Data) und das Geschäftsmodell (z. B. öffentliche Förderung oder privatwirtschaftliche Umsetzung durch Kauf und Verkauf von Daten).

5.2 Entwicklung von Lösungsansätzen

Auf Basis des morphologischen Kastens werden zwei mögliche Ansätze abgeleitet, wie digitales Kartenmaterial angereichert werden kann, um eine Routenplanung für gewerbliche Lastenräder zu ermöglichen.
Im Lösungsansatz „Manual Crowd Open Data“ (s. Abb. 4) melden Radlogistikunternehmen bzw. Fahrer*innen Datenpunkte zur Infrastruktur über eine App (wie z. B. streetcomplete) zur direkten Integration in das offene Kartenmaterial von OSM, Präferenzen können dabei nicht in das Kartenmaterial integriert werden. Die Daten werden manuell eingegeben, daher muss die App einfach und schnell bedienbar sein. Die Qualität der Daten ist aufgrund der realen Erfahrung der Fahrer*innen im Gebiet entsprechend hoch und ein ganzer Stadtteil, in welchem der Radlogistiker operiert, kann erfasst werden (mittlerer Umfang). Die Motivation ist intrinsisch, da Routen sicherer (Vorteil Fahrer*in) und schneller (Vorteil Unternehmer*in) werden. Das offene Kartenmaterial wird so sukzessive durch die Radlogistiker*innen aktualisiert, wodurch die Routingalgorithmen immer besser arbeiten können. Ein Geschäftsmodell ist nicht damit verbunden, ein kostenloser Zugriff auf die Kartendaten ist möglich.
Im Lösungsansatz „Hybrid Third Party“ (s. Abb. 5) lassen Drittanbieter Daten zur Infrastruktur und Routen-Präferenzen manuell und automatisiert durch lokale Akteure erheben, um das digitale Kartenmaterial zu verbessern und interessierten Routenplanungsunternehmen zum Kauf anzubieten. Radlogistikunternehmen und Akteure wie Bike‑/Roller-Sharing-Anbieter nutzen ihre Flotten, um anhand von am Fahrzeug verbauten Sensoren Infrastrukturdaten zu erfassen. Zudem werden Radlogistikunternehmen zu ihren Routenpräferenzen befragt. Hierfür erhalten sie eine finanzielle Entschädigung vom Drittanbieter. Durch diese monetären Anreize können Daten in großem Umfang, z. B. im gesamten Stadtgebiet erhoben werden. Aufgrund der Teilautomatisierung der Datenaufnahme kann die Datenqualität variieren. Eine Validierung kann über ein „manuelles“ Feedback der Fahrer*innen zu gefahrenen Routen erfolgen. Für Routenplanungsunternehmen kann der Drittanbieter zusätzliche Services anbieten, z. B. mittels Anomaliedetektion Unterschiede zwischen geplanten und gefahrenen Routen zu ermitteln. So können auch automatisiert Nutzer*innenpräferenzen abgeleitet und die Routingalgorithmen weiter verbessert werden. Mit den Einnahmen finanziert der Drittanbieter die Datenerhebung sowie die Pflege und Schnittstellen seiner Karten-Plattform. Eine öffentliche Förderung der Datenerhebung wäre wünschenswert, um die Anreize zur Datenerhebung zu erhöhen und den Datenerhebungsprozess zu beschleunigen.

6 Fazit und Ausblick

Zielsetzung des Beitrags war es, Lösungsansätze aufzuzeigen, wie digitales Kartenmaterial angereichert werden kann, um eine digitale Routenplanung für gewerbliche Lastenräder zu ermöglichen. Hierfür wurden Anforderungen und Datenbedarfe an ein Routenplanungssystem für urbane, gewerbliche Lastenradverkehre auf Basis eines Feldversuchs und einer Literatur‑/Projektrecherche analysiert und in Form von User Stories zusammengefasst. Darauf aufbauend wurden zwei mögliche Lösungswege aufgezeigt, wie lastenradspezifische Informationen im Kartenmaterial ergänzt und der Praxis zur Verfügung gestellt werden können. Damit leistet dieses Paper einen Beitrag zur weiteren Entwicklung von lastenradspezifischen Routenplanungssystemen. Verbesserte Routingmöglichkeiten können zu einem effizienteren und damit zu einem verstärkten Einsatz von Lastenrädern in der urbanen Logistik führen. Dadurch könnten Emissionen reduziert, die städtische Infrastruktur entlastet und die Lebensqualität in Städten gesteigert werden.
Aus den Ergebnissen resultieren Implikationen für verschiedene Stakeholder aus der Praxis: Logistikdienstleister, die Lastenräder einsetzen (wollen), können von einer verbesserten Routenplanung für gewerbliche Lastenräder profitieren, da Routen schneller, kürzer und sicherer werden. Anbieter von Routenplanungssystemen können mit einer digitalen Routenplanung für gewerbliche Lastenräder ein neues Geschäftsfeld erschließen. Anbieter von digitalem Kartenmaterial können ihre Karten für Lastenräder optimieren, an Routenplanungsanbieter vermarkten und so ebenfalls neue Geschäftsfelder erschließen. Kommunen/Städte profitieren von der steigenden Attraktivität von Lastenrädern, wenn dadurch weniger Emissionen im Lieferverkehr anfallen. Um diese Entwicklung zu beschleunigen, können sie einen aktiven Beitrag leisten, indem sie u. a. die Erhebung der benötigten Kartendaten fördern oder selbst die relevanten Daten offen anbieten.
Weiterer Forschungs- und Entwicklungsbedarf besteht in der Weiterentwicklung und Umsetzung der aufgezeigten Lösungsansätze. Mit einem angereichertem Kartenmaterial können die Algorithmen der Routenplanungssysteme bessere Routen für Lastenräder vorschlagen. Genauer untersucht werden sollten die Akzeptanz der Nutzer*innen als kritischer Erfolgsfaktor des Einsatzes solcher Systeme in der Praxis, sowie in diesem Zusammenhang auch die Gestaltung der Benutzerschnittstelle einer entsprechenden Anwendung. Analysiert werden sollten zudem die konkreten Potenziale digitaler Routenplanungssysteme für die Lastenradlogistik, z. B. in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen Effizienz und Sicherheit durch deren Einsatz verbessert werden können. Denn nur, wenn spürbare Effekte in den operativen Lieferprozessen vorhanden sind, werden sich wirtschaftliche Potenziale für Logistikdienstleister sowie für Anbieter von Routenplanungssystemen und Kartenmaterial ergeben.
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Literatur
Zurück zum Zitat Domschke W, Scholl A (2010) Rundreisen und Touren, 5. Aufl. Logistik, Bd. 2. Oldenbourg, MünchenCrossRef Domschke W, Scholl A (2010) Rundreisen und Touren, 5. Aufl. Logistik, Bd. 2. Oldenbourg, MünchenCrossRef
Zurück zum Zitat SmartRadL (2022) SMART RADL – Intelligentes Routen- und Auftragsmanagement für urbane Lastenradverkehre. Abschlusspräsentation SmartRadL (2022) SMART RADL – Intelligentes Routen- und Auftragsmanagement für urbane Lastenradverkehre. Abschlusspräsentation
Zurück zum Zitat Wirdemann R, Mainusch J (2017) Scrum mit User Stories, 3. Aufl. Hanser, München Wirdemann R, Mainusch J (2017) Scrum mit User Stories, 3. Aufl. Hanser, München
Metadaten
Titel
Digitale Routenplanung für die Radlogistik: Anforderungen, Hürden und Lösungsansätze
verfasst von
Maximilian Engelhardt
Birte Malzahn
Robert Teschendorf
Publikationsdatum
05.06.2023
Verlag
Springer Fachmedien Wiesbaden
Erschienen in
HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik / Ausgabe 4/2023
Print ISSN: 1436-3011
Elektronische ISSN: 2198-2775
DOI
https://doi.org/10.1365/s40702-023-00986-w

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