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Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

8. Nutzen von Digitalen Zwillingen und Virtueller Inbetriebnahme für den Maschinen- und Anlagenbau

verfasst von : Karl Kübler, Florian Jaensch, Christian Daniel, Alexander Verl

Erschienen in: Echtzeitsimulation in der Produktionsautomatisierung

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

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Zusammenfassung

Noch vor der technischen Realisierung der Virtuellen Inbetriebnahme und von Digitalen Zwillingen ist die Betrachtung von deren Nutzen für den industriellen Einsatz im Maschinen- und Anlagenbau von hoher Relevanz. Sobald eine vorausgehende Investition getätigt werden muss, sollte vorab geklärt werden können, wie sich diese bezahlt machen kann. In diesem Beitrag werden dazu die Nutzenpotenziale der Virtuellen Inbetriebnahme und Digitaler Zwillinge für die verschiedenen Rollen entlang der Wertschöpfungsketten im Maschinen- und Anlagenbau dargelegt. Basierend auf dem „Leitfaden Virtuelle Inbetriebnahme“ des VDMA (Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau e. V.) wird zusammengefasst, welche Rollen in den Wertschöpfungsketten beteiligt sind und wie deren qualitative und quantitative Nutzen durch Einführung der Virtuellen Inbetriebnahme aussehen. Im letzten Abschnitt dieses Beitrages werden Praxisbeispiele eines Anlagenbetreibers für die Automobilfertigung und eines Anlagenbauers für die Holzbearbeitung aus den „Best Practices zur Virtuellen Inbetriebnahme“ des VDMA rezitiert und die Nutzung einer digitalen Austauschplattform betrachtet.

8.1 Einleitung

Die Entwicklung des deutschen Maschinen- und Anlagenbaus wird besonders stark durch die vierte industrielle Revolution (Industrie 4.0) geprägt. Die intelligente Vernetzung von Maschinen und Abläufen in der Fabrik auf Basis innovativer Informations- und Kommunikationstechnologien soll helfen, die internationale Spitzenposition Deutschlands in der produzierenden Industrie abzusichern und auszubauen [1].
Der Erfolg der Industrie 4.0 hängt maßgebend davon ab, wie effizient neue Technologien und digitale Wertschöpfungsketten als Basis für erfolgreiche Geschäftsmodelle nicht nur in großen Unternehmen, sondern auch in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) etabliert werden können. Die Basis für zahlreiche zukünftige Lösungen stellen Digitale Zwillinge dar, die Informationen und Simulationsmodelle von Komponenten, Maschinen und Anlagen enthalten und deren Prozessen entlang der digitalen Wertschöpfungskette zur Verfügung stellen [2, 3]. Bereits heute sind in der Industrie digitale Plattformen verfügbar, die auf gesammelten Daten und Informationen (Digitaler Schatten) Methoden der Predictive Analytics nutzen [4]. Als digitale Modelle für den Digitalen Zwilling stehen eine Vielzahl von Simulationsmodellen, welche die Entwicklung einer Maschine oder Anlage ermöglichen und absichern, zur Verfügung. Die Virtuelle Inbetriebnahme (VIBN) wird in vielen Unternehmen als Einstieg in die Digitalisierung und Simulationstechnologien genutzt, da hier bereits eingehende Erfahrungen und ein konkreter Nutzen vorliegen, welche signifikant Kosten im Engineering reduzieren und die Qualität erhöhen [5, 6]. Werden die Simulationsmodelle für die VIBN so aufgebaut, dass diese auch begleitend zum Betrieb der Maschine oder Anlage für Produktionsoptimierungen und Qualifizierung des Personals eingesetzt werden können, entsprechen sie eher der Idee eines Digitalen Zwillings. Im Bereich des Digitalen Zwillings, besonders des simulativen Anteils, besteht noch ein großes Entwicklungspotenzial.
Eine Umfrage des VDMA Arbeitskreis „Simulation und Visualisierung im Maschinenbau“ aus dem Jahre 2017 zeigt, dass die befragten Unternehmen den größten Bedarf und das höchste Entwicklungspotenzial von Simulationstechnologien in der VIBN sehen [7] (vgl. Abb. 8.1).
Aufgrund der großen Resonanz auf Veranstaltungen und Veröffentlichungen zur VIBN wurde durch den VDMA im Jahre 2020 der „Leitfaden Virtuelle Inbetriebnahme“ [8] unter aktiver Mitwirkung der Autoren erarbeitet. Mit diesem praxisorientierten Leitfaden wurde ein weiterer Baustein zur praktischen Umsetzung von Industrie 4.0 und dem Digitalen Zwilling realisiert. Ein besonderer Fokus des Leitfadens liegt auf den Kosten und Nutzen bei der Einführung der VIBN in Unternehmen.
Komplettiert wird der Leitfaden durch die begleitende Publikation „Best Practices zur Virtuellen Inbetriebnahme“ [9], in der die Einführung und Etablierung der VIBN in Unternehmen des Anlagen- und Maschinenbaus aufgezeigt werden.
Die wichtigsten Aspekte aus Leitfaden und Best Practices sind Inhalt dieses Beitrages. Ergänzt werden diese durch ein Praxisbeispiel zum Nutzen des Einsatzes von Simulationsplattformen für Digitale Zwillinge und die Virtuelle Inbetriebnahme.

8.2 Nutzen entlang der Zulieferkette im Maschinen- und Anlagenbau

Um den Nutzen von VIBN und Digitalen Zwillingen eingehend analysieren und bewerten zu können, ist es entscheidend, die gesamte Wertschöpfungskette des Maschinen- und Anlagenbaus zu betrachten. Es reicht nicht mehr nur aus, den einzelnen Anwender der VIBN als Akteur oder alleinigen Nutzer zu betrachten. Daher werden zunächst die an der Wertschöpfung des Maschinen- und Anlagenbaus beteiligten Rollen, die in Abb. 8.2 dargestellt sind, erläutert. Direkt beteiligte Rollen sind der Komponentenlieferant, der Systemlieferant (Systemintegrator, Maschinen- und Anlagenlieferant) sowie der Betreiber des Produktionssystems. Die gesamte Zulieferkette wird durch den Anbieter der Simulationsplattform als Softwareanbieter begleitet, der dadurch den generierbaren Nutzen der jeweiligen Rollen maßgeblich beeinflusst. Da in der Praxis nicht immer alle potenziellen Nutzen der VIBN und des Digitalen Zwillings in einem Unternehmen ausgeschöpft werden können, wird im Folgenden in diesem Zusammenhang von Nutzenpotenzialen gesprochen.
Neben der Betrachtung von Nutzenpotenzialen der einzelnen Rollen muss auch der zusätzliche Nutzen, der sich aus den nahtlosen Prozessen entlang der neu entstehenden digitalen Wertschöpfungskette vom Komponentenlieferant bis zum Betreiber der digitalen Komponente ergibt, herangezogen werden (vgl. Abb. 8.3).
Die Bestellung, Fertigung und Auslieferung physischer Komponenten, Maschinen und Anlagen ist mit Beschränkungen bezüglich deren zeitlichen Verfügbarkeit verbunden. Während für die Betriebsphase nur physisches Equipment eingesetzt werden kann, sind schnell verfügbare Digitale Zwillinge von Komponenten, Maschinen und Anlagen in früheren Phasen des Lebenszyklus von Vorteil. Bereits in der Angebotsphase von Produktionssystemen (Greenfieldplanung) entsteht zwischen Kunde und Auftragnehmer ein besseres gegenseitiges Verständnis, wenn an einem allgemein verständlichen Digitalen Zwilling Lösungsideen exploriert werden können. Der Auftragnehmer selbst bezieht Komponenten von Zulieferern, die über das größere Know-how hinsichtlich der bereitgestellten Funktionalität, der genutzten Betriebsarten und der Ausprägung der Schnittstellen inklusive Parametrierung verfügen. Dadurch wird die Komponentenentwicklung nahtlos in die Systemintegration eingebunden, wodurch neue Nutzenpotenziale sowohl beim Komponentenhersteller als auch in der gesamten Wertschöpfungskette generiert werden.
In der Entwicklungsphase des Gesamtsystems und einer durch VIBN begleitenden Verifikation und Validierung ermöglicht die digitale Wertschöpfungskette eine höhere Entwicklungsgeschwindigkeit und die Betrachtung einer größeren Anzahl von Varianten bei der Erarbeitung einer optimalen Lösung. Iterationen am digitalen Modell sind dabei deutlich günstiger und schneller durchführbar, als diese am realen Prototyp möglich wären. Als Ergebnis der beschriebenen digitalen Wertschöpfungskette steht für die Betriebsphase neben dem realen Produktionssystem direkt dessen Digitaler Zwilling zur Verfügung. Der Digitale Zwilling wird anschließend über die VIBN hinaus, begleitend zum Produktionsbetrieb für Serviceeinsätze, Predictive Maintenance, Absicherung von Retrofit-Maßnahmen, aber auch für die Rückmeldung an den Komponentenhersteller, wie beispielsweise über die Performance und Zuverlässigkeit seiner Komponenten, genutzt. Abb. 8.4 zeigt den resultierenden Lebenszyklus einer Maschine oder Anlage mit den beschriebenen Einflüssen einer digitalen Wertschöpfungskette.
Die beschriebene digitale Wertschöpfungskette kann ihren Nutzen erst entfalten, wenn alle beteiligten Rollen ihre zu erbringenden Leistungen optimal integrieren. Dazu bedarf es aufeinander abgestimmte Engineeringprozesse, sodass der Digitale Zwilling frühzeitig, beziehungsweise zusammen mit dem realen Produktionssystem, entstehen und genutzt werden kann. Ebenso müssen effiziente Iterationsprozesse etabliert sein, da die digitale Wertschöpfung kleinere Iterationsschleifen fördert und nutzt. Um die Durchgängigkeit der digitalen Wertschöpfungskette zu gewährleisten, sind maßgeblich folgende Mechanismen zu etablieren:
  • Einheitliche Datenformate zur werkzeugübergreifenden Integration
  • Bedarfsgerechte Detaillierungsstufen je Anwendungsfall
  • Know-how Schutz bei Bereitstellung und Weitergabe
  • Nachverfolgbarkeit von Versionen und Änderungen
Die eingehende Untersuchung und Konzeption von Prozessen und Werkzeugen, die entlang einer digitalen Wertschöpfungskette eingesetzt werden können, sind aktueller Gegenstand von Forschung und Entwicklung [10, 11].

8.3 Exemplarische Betrachtung konkreter Nutzen entlang der Lieferkette

Die durch den Einsatz von VIBN und Digitalen Zwillingen vorhandenen Nutzenpotenziale lassen sich allgemein in qualitative und quantitative Nutzenpotenziale unterteilen. Dabei sind die qualitativen Nutzenpotenziale häufig ohne die Einführung zusätzlicher Kennzahlen, wie z. B. bei einer präzisen Prozessanalyse, nicht eindeutig messbar. Bei den quantitativen Nutzenpotenzialen steht die Messbarkeit sowohl absolut als auch relativ in einem Vorher-Nachher-Vergleich im Fokus.
Nach dem „Leitfaden Virtuelle Inbetriebnahme“ [8] können die qualitativen Nutzenpotenziale aller an der Zulieferkette beteiligen Rollen in fünf Zieldimensionen unterteilt werden: Kosten, Zeit, Qualität, Transparenz und Reaktionsfähigkeit. Die Ergänzung von Transparenz und Reaktionsfähigkeit zum bekannten Optimierungsdreieck (Zeit, Kosten, Qualität) aus [12] beschreibt die perfekte Produktion (vgl. Abb. 8.5). Transparenz bedeutet, dass Abläufe verständlich und nachvollziehbar gestaltet sind, sodass Abweichungen von Soll-Zuständen schnell erkannt werden. Reaktionsfähigkeit wird mit schnell reagierenden Abläufen in der Produktion beschrieben, wobei dies verstärkt für irreguläre Ereignisse, wie beispielsweise Störungen, Ausfälle oder Eilaufträge gilt [12].
Qualitative Nutzenpotenziale müssen für jede Rolle und jedes Unternehmen individuell identifiziert werden. Eine Sammlung der qualitativen Nutzenpotenziale kann anschließend genutzt werden, um eine strategische Ausrichtung des Unternehmens für den Einsatz von Digitalen Zwillingen vorzunehmen. Dabei unterstützen die Nutzenpotenziale bei der Argumentation, warum ein VIBN-Prozess in der Entwicklung eingeführt werden sollte, warum die Teilnahme an einer digitalen Wertschöpfungskette sinnvoll ist und ob die Entwicklung von Digitalen Zwillingen für die Betriebsphase Vorteile bringt. Beispiele für qualitative Nutzenpotenziale aus [8] für die beteiligten Rollen im Maschinen- und Anlagenbau sind:
Nutzenpotenziale für den Komponentenlieferanten
  • Zeit: Früherer Markteintritt durch virtuelle Demonstrationsszenarien
  • Qualität: Sicherstellung der Funktionsfähigkeit in virtuellen Integrationstests
  • Kosten: Virtuelle Erprobung statt kostenintensiver physischer Prototypen
  • Transparenz: Nutzung von Simulationsmodellen in Vertrieb und Support
  • Reaktionsfähigkeit: Gezielte Abstimmung an Simulationsmodellen
Nutzenpotenziale für den Systemlieferanten
  • Zeit: Parallelisierte Prozesse von Entwicklung und virtueller Absicherung
  • Qualität: Erhöhter Systemreifegrad durch gesteigerte Testabdeckung
  • Kosten: Vermeidung von später kostenintensiver Fehlerbehebung
  • Transparenz: Abstimmungsrunden mit dem Betreiber in der Entwicklungsphase
  • Reaktionsfähigkeit: Nachvollziehen von Fehlerfällen an der Simulation
Nutzenpotenziale für den Betreiber
  • Zeit: Zeitgerechte Lieferung der Maschine oder Anlage
  • Qualität: Erhöhter Reifegrad, dadurch schnelles Erreichen des Betriebspunkts
  • Kosten: Reduzierung von Verlusten in der Anlaufphase
  • Transparenz: Abgleich zwischen realer und virtueller Welt
  • Reaktionsfähigkeit: Verbesserter Support durch den Lieferanten
Der Leitfaden bietet für die Bezifferung der Potenziale der quantitativen Nutzenpotenziale eine Unterstützung zur Kosten-Nutzen-Abschätzung. Bei diesem dreistufigen Verfahren (siehe Abb. 8.6 rechts) werden zunächst die Kosten in den jeweiligen Wertschöpfungsbereichen und den zugehörigen Prozessen ermittelt. Im nächsten Schritt werden prozentuale Einsparungspotenziale abgeschätzt und abschließend die Einsparungspotenziale als Differenz von Kosten und Einsparungen quantitativ ausgewertet. Die Auswertung gibt einen Richtwert, welche Kostenersparnis mit VIBN im Unternehmen zu erwarten ist und dient gleichzeitig als Grundlage einer Budgetplanung bei der Einführung von VIBN [8].
Abb. 8.6 fasst die Einteilung, Umsetzung und den Einsatz der Nutzenpotenzialabschätzungen zusammen. Anzuwenden sind die Abschätzungen noch vor der Einführung von Digitalen Zwillingen oder der Teilnahme an einer digitalen Wertschöpfungskette. Im weiteren Verlauf können die erhobenen Daten genutzt werden, um den Fortschritt bei der Umsetzung zu messen.
Die Betrachtung der unternehmensspezifischen Nutzenpotenzialen anhand dieser dreistufigen Vorgehensweise führt zur ersten fundierten Planungsgrundlage hinsichtlich der Einführung von Digitalen Zwillingen und VIBN im Unternehmen. Die endgültige Entscheidungsgrundlage unter Berücksichtigung der technischen und organisatorischen Herausforderungen bekommt man oft erst, wenn die theoretische Nutzenpotenzialbetrachtung mit praktischen Erfahrungen im Rahmen eines Pilotprojekts überprüft und bestätigt wird.
Das Pilotprojekt hat dabei mehrere Vorteile. Im Rahmen der ersten Schritte wird ein unternehmensspezifischer VIBN-Prozess konzipiert und entwickelt sowie neue organisatorische Strukturen vorbereitet. Ein gut durchgeführtes Pilotprojekt kann zudem nachweislich den ersten transparenten Nutzen für das Unternehmen generieren. Ferner können weitere Nutzenpotenziale durch die Praxiserfahrung identifiziert und die Zielvorstellung konkretisiert werden. Ein weiterer Vorteil ist, dass durch das Pilotprojekt auch die Kosten der VIBN sehr viel besser abgeschätzt werden und in Relation zu dem generierbaren Nutzen gesetzt werden können.
Für die Durchführung eines Pilotprojekts und die dafür notwendigen vorbereitenden Schritte liefert der „Leitfaden Virtuelle Inbetriebnahme“ eine praxisorientierte Anleitung [8]. Eine detailliertere Darstellung der in einem Pilotprojekt notwendigen Schritte liefert die VDI/VDE-Richtlinie 3693 Blatt 2 „Einführung der Virtuellen Inbetriebnahme im Unternehmen“ [13].

8.4 Praxisbeispiele für den Nutzen der Virtuellen Inbetriebnahme und Digitalen Zwillingen

Im ersten Praxisbeispiel wird der Nutzen der VIBN bei einem Anlagenbetreiber aus dem Automobilumfeld betrachtet. Das Best Practice entstammt [9].
Die VIBN kann nicht nur bei der Entwicklung von neuen Anlagen (Greenfield), sondern auch für die Erweiterung bestehender Anlagen (Brownfield) effizient eingesetzt werden. In diesem Fall wird eine Simulationsplattform, die einen Aufbau des Digitalen Zwillings aus virtuellen mechatronischen Baugruppen ermöglicht, vorausgesetzt. Bei Brownfield-Anlagen werden virtuelle Produktionseinheiten wie bei realen Anlagen gegen neue Produktionseinheiten ausgetauscht beziehungsweise die bestehende Produktion durch neue Technologien erweitert.
Zielsetzung der VIBN in diesem Einsatzbereich ist die Absicherung des Software- Reifegrades vor der eigentlichen Integration. Hierbei wird ein besonderes Augenmerk auf verklemmungsfreie Abläufe, Verhinderung von Kollisionen sowie die Qualität der Schnittstelleninteraktion zwischen Logistikmodul und Bearbeitungszentren gelegt. Der Systemtest erfolgt unter Einbeziehung von realen Auftragsdaten des übergeordneten Systems, siehe Abb. 8.7.
Da virtuelle Modelle für alle Komponenten und Baugruppen vor ihrer realen Umsetzung zur Verfügung standen, konnte die Entwicklung der komplexen Steuerungssoftware daran vorgenommen und das Testen der Integration vorgezogen werden. So wurde bereits vor der Verfügbarkeit der realen Anlage ein hoher Software-Reifegrad erreicht. Als virtuelle Testumgebung kam neben einer offenen Simulationsplattform eine Hardware-in-the-Loop Simulation bestehend aus drei Testracks für NC-Steuerung, Visualisierung und die Bedienfelder zum Einsatz.
Bei der Erweiterung von Brownfield-Anlagen konnten folgende Nutzenpotenziale realisiert werden:
  • Reduzierung der Produktionsunterbrechung um etwa 75 % auf etwa 2 Tage durch sehr hohen Software-Reifegrad
  • Deutliche Reduzierung der Anlaufkosten
  • Reduzierung der Integrationszeit als Folge der steilen Anlaufkurve um ca. 66 %
  • Reduzierung der gesamten Projektdurchlaufzeit um ca. 10 %
  • Frühere Übergabe an den Betreiber gepaart mit erhöhtem OEE (Overall Equipment Effectiveness)
Die Anforderungen an eine Simulationsplattform und Digitale Zwillinge im Maschinen- und Anlagenbau und der resultierende Nutzen werden sehr stark durch die jeweilige Phase in der digitalen Wertschöpfungskette und den Schwerpunkt des Geschäftsmodells bestimmt. Ein Grundprinzip charakterisiert jedoch alle Phasen beziehungsweise Einsatzbereiche: Die Wiederverwendung von Simulationsmodellen im Sinne eines mechatronischen Baukastensystems, mit welchem die Produktstruktur, hier das Produktionssystem, optimal abgebildet wird, sollte sichergestellt sein. Das Produktionssystem besteht in der Regel aus Komponenten, mechatronischen Baugruppen und Produktionsbereichen beziehungsweise -zellen. Der Nutzen einer digitalen Wertschöpfungskette entsteht, wenn die Lieferanten ihre mechatronischen Komponenten direkt als virtuelle Modelle für den Digitalen Zwilling anbieten und der Systemintegrator früh, nach dem Baukastenprinzip, seine Lösungen verifizieren kann, siehe Abb. 8.8.
Im Folgenden wird ein Praxisbeispiel einer lieferkettenübergreifenden digitalen Wertschöpfungskette betrachtet (siehe [9]). Bereitsteller des Praxisbeispiels ist ein Systemintegrator (Anlagenbauer), welcher Anlagen für die Holzverarbeitung entwickelt. Das Best Practice zeigt die Bereitstellung und Nutzung von Verhaltensmodellen für die VIBN entlang der gesamten Zulieferkette. Zielsetzung der VIBN beim Anlagenbauer ist die Ablösung der internen Abnahme an realen Anlagen im Werk durch die VIBN. Ferner stellen die Simulationsmodelle, wie zum Beispiel in Abb. 8.9 gezeigt, die Basis für Machbarkeitsstudien und zur Absicherung von Abnahmekriterien am Modell.
Der Reduzierung von Kosten und Projektzeiten sowie der Erhöhung der Qualität der ausgelieferten Anlagen durch die VIBN stehen zunächst jedoch Aufwände für die Erstellung von Simulationsmodellen gegenüber.
In diesem Beispiel werden die Anlagen (Losgröße 1) aus virtuellen Komponenten und Baugruppen in Analogie zu den realen Anlagen konfiguriert. Dabei kommen wiederverwendbare mechatronische Einheiten zum Einsatz, die die Modularität und Struktur 1:1 abbilden.
Die Simulationsmodelle entstehen entlang der realen Wertschöpfungskette und ergänzen diese durch die digitale Wertschöpfung. Im idealen Fall liefern Komponentenhersteller die Modelle der realen Komponenten als Teil des Lieferumfangs aus. Hierzu zählen virtuelle Antriebe, Sensoren und weitere intelligente Feldbusteilnehmer, die für den Systemtest mittels Hardware-in-the-Loop Simulation benötigt werden.
Die Konfiguration als Grundprinzip für die Erstellung eines virtuellen Produktionssystems aus mechatronischen Baugruppen ermöglicht anschließend die Automatisierung des Erstellungsprozesses durch Konfigurationsvorschriften, die durch die Simulationsplattform interpretiert werden.
Zu den Nutzenpotenzialen durch die lieferkettenübergreifende Bereitstellung von Verhaltensmodellen gehören:
  • Einsparung von Flächen/Hallenbelegungen für die internen Vorab-Inbetriebnahmen
  • Reduzierung von Personal- und Materialkosten für die reale Inbetriebnahme
  • Automatische Erstellung der Simulationsmodelle aus einem Baukastensystem
  • Kürzere Projektdurchlaufzeiten als Basis für einen frühen Markteintritt
  • Vertrauensbasis zwischen Betreiber und Kunde durch frühen Nachweis der Leistungsfähigkeit anhand von Simulationsmodellen
Weitere Best Practices des VDMA [9] zeigen, dass bereits durch die vorgezogene VIBN ein Nutzen in der Phase des Engineerings entsteht. In den meisten Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus stellt die VIBN den Einstieg in die Simulationstechnologie dar. Aufbauend auf den gesammelten Erfahrungen und der etablierten Prozesse werden weitere Potenziale erkannt und der Einsatz im Sinne einer digitalen Wertschöpfung sukzessive ausgebaut.
Voraussetzung hierfür sind Simulationsplattformen, welche das Produktionssystem hinsichtlich der Modularität und Struktur 1:1 abbilden. Die Simulationsmodelle der VIBN können dann bereits während der Akquise durch den Vertrieb genutzt werden. Sie dienen im Projektengineering der Analyse von alternativen Lösungen und der Auswahl derjenigen Lösung, welche die Anforderungen des Kunden am besten erfüllt. Ferner werden die Simulationsmodelle als Digitale Zwillinge zur Optimierung der Produktion, Qualifizierung des Personals und für innovative Servicekonzepte genutzt.
Abb. 8.10 zeigt den quantitativen Nutzen der konsequenten Überführung der Modelle für die VIBN in betriebsbegleitende Digitale Zwillinge. Die Betrachtung konzentriert sich auf den Betreiber einer Maschine oder Anlage. Die Werte sind Erfahrungswerte von Kunden des Simulationswerkzeugs ISG-virtuos.

8.5 Zusammenfassung und Ausblick

Im vorliegenden Beitrag wurden Nutzenpotenziale der VIBN und Digitaler Zwillinge für verschiedene Rollen in den Wertschöpfungsketten des Maschinen- und Anlagenbaus betrachtet. Dazu wurden zunächst die relevanten Rollen der Wertschöpfungsketten identifiziert. Anschließend wurden qualitative und quantitative Nutzenpotenziale aufgestellt und den beteiligten Rollen zugeordnet. Für jedes Unternehmen sind die umsetzbaren Nutzenpotenziale verschieden und individuell zu ermitteln. Anhand von Beispielen aus der industriellen Praxis wurden konkrete Nutzen eines Anlagenbetreibers für die Automobilfertigung und eines Anlagenbauers für die Holzbearbeitung dargelegt. Die in diesem Beitrag dargelegten theoretischen und praktischen Nutzenpotenziale können als Vorlage bei der Argumentation für die Einführung der VIBN und Digitalen Zwillingen in einem Unternehmen genutzt werden. Darüber hinaus kann die konkrete Budgetplanung mittels der Nutzenpotenziale unterstützt werden.
Für die zukünftige Entwicklung ist vor allem durch die Etablierung von digitalen Wertschöpfungsketten, welche über geeignete Simulationsplattformen verfügen, eine Steigerung der Effizienz beim Einsatz von VIBN und Digitalen Zwillingen zu erwarten. Dafür sind durchgängige Austauschmechanismen von digitalen Modellen, vom Komponentenlieferanten, über den Systemintegrator bis hin zum Betreiber, zu entwickeln.
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Titel
Nutzen von Digitalen Zwillingen und Virtueller Inbetriebnahme für den Maschinen- und Anlagenbau
verfasst von
Karl Kübler
Florian Jaensch
Christian Daniel
Alexander Verl
Copyright-Jahr
2024
Verlag
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DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-66217-5_8

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